Unterschicht - was sonst´
Bei der öffentlichen Debatte, die eine vor wenigen Wochen veröffentlichte Sozialstudie der Friedrich Ebert-Stiftung auslöste, glaubte ich eine Zeit lang meinen Ohren nicht zu trauen. Da wurde doch tatsächlich in der Hauptsache nicht darüber gestritten, wie man die materielle Verarmung und geistige Verelendung breiter Bevölkerungskreise bekämpfen kann, sondern darüber, ob man von einer Unterschicht sprechen darf. Ein soziales, ökonomisches und politisches Problem wurde als sprachliches Problem behandelt, das Etikett war offenbar manchen Politikern wichtiger als das, was es bezeichnet.
Und das Äußerste was den Betroffenen an Barmherzigkeit von denen widerfuhr, die ganz bestimmt nie zu den Hartz IV-Empfängern zählen werden, war die tröstliche Erkenntnis, dass es so etwas wie Unterschicht eigentlich gar nicht geben könne, denn eine solche Klassifizierung sei ja diskriminierend und stigmatisierend.
Das Dumme ist nur: Es gibt sie, die Unterschicht. Wie denn auch nicht in einer Gesellschaft, in der es unzweifelhaft eine Ober- und Mittelschicht gibt´ Wie soll denn die Schicht unter der Mittelschicht sonst heißen: Basis, Souterrain, C-Klasse oder gar Lumpenproletariat´ Ich habe das doch richtig in Erinnerung, dass mir und meinen Mitschülern im Gemeinschaftskundeunterricht klar gemacht wurde, dass wir nicht mehr in einer Klassengesellschaft leben. Es gäbe keine Klassen mehr, sondern Schichten und weil Schichten keine Klassen sind, sei es möglich, dass Menschen sozial aufsteigen, im schlechteren Fall aber auch absteigen können, so wie ja auch zwischen den Erdschichten eine Durchlässigkeit besteht und Austausch stattfindet. Das kam mir damals, als ich nicht so recht wusste, ob ich mich nun als demokratischer Sozialist oder als Anarchist definieren sollte, schon etwas geschönt vor. Das ist schon ein paar Jahrzehnte her. Und jetzt soll dieses an und für sich harmlose Wort Unterschicht zu krass und unpassend sein für die Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse. Merkwürdigerweise ist den betreffenden Herrschaften keine andere Bezeichnung für das und die eingefallen, die es bezeichnet.
Das Wort Prekariat (für Menschen in prekären, d.h. ungesicherten Lebensverhältnissen), das in der Studie verwendet wurde, hat ja nun wenig Chancen in den deutschen Wortschatz einzugehen. Und was gibt es sonst noch an Bezeichnungsmöglichkeiten, die Minderbemittelten, die Armen, die Habenichtse. Das klingt ja alles auch nicht besonders erfreulich. Wie wäre es denn mit die vertikal Herausgeforderten, das war mal in den Hochzeiten der Political Correctness ein aus dem Angelsächsischen kommender Ausdruck für kleinwüchsige Menschen (vulgo: Zwerge), der sich nicht so recht durchgesetzt hat. So wäre er noch zu haben als Bezeichnung für die gesellschaftlich und wirtschaftlich Zukurzgekommenen, die sich strecken müssen, um an die Fleischtöpfe des globalisierten Kapitalismus zu kommen.
Das Problem ist nur, dass sie sich strecken können, wie sie wollen, sie kommen nicht mehr hoch. Die Arbeitsplätze, die ihnen den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen würden, gibt es nicht oder nur in sehr geringem Maße, dafür haben die vertikal Herausgeforderten den schönen Trost, dass sie viele sind und dass sie immer mehr werden, denn von oben, von der Mittelschicht, stoßen, genauer gesagt rutschen, mehr und mehr zu ihnen herunter. Das Nettoeinkommen der Privathaushalte ist in den letzten Jahren zurückgegangen, während die Unternehmensgewinne gestiegen sind, von den Vorstandsgehältern ganz zu schwiegen. So ist der Abstand geschrumpft zwischen denen, die fast nichts, und denen, die eigentlich genug zum Leben haben, aber nicht genug, um sich gegen jedes Risiko abzusichern, geringer geworden. Arbeitslosigkeit, Scheidung, Krankheit und andere Unglücksfälle können zum Absturz führen, vom noch nicht abbezahlten Eigenheim in der Schuldenfalle. Dann gehört man zu den Leuten, zu denen man nie gehören wollte, zu denen, die nur im Billigdiscounter einkaufen, die sich nach den preiswerten namenlosen Produkten in den Regalen bücken, die statt im Restaurant an der Imbissbude essen gehen oder sich zum Abendessen eine schöne Dose Ravioli aufmachen, während sie im Fernsehen verfolgen, wie man ein Festtagsdiner auf den Tisch zaubert.
Es ist ja nicht leicht zu sagen, was zuerst da ist, die geistige oder die materielle Verarmung. Ja, es gibt Menschen, die den Arsch nicht mehr hochkriegen, die sich jeden Tag besinnungslos saufen, die vor dem Fernseher verrotten, in den bequemen Sportklamotten mit Gummizug, in den man alles macht, nur keinen Sport. Manchmal begegnet man ihnen auf der Straße, wenn sie gerade zum nächsten Zigarettenautomaten schlappen oder in der Schlange im Supermarkt stehen mit ein paar Bierchen im Einkaufswagen in einer Dunstglocke aus Alkohol, Schweiß und dem Mief ungelüfteter Klamotten.
Diese Asozialen, die zur Unterschicht gehören, aber bei weitem nicht die Unterschicht ausmachen, sieht man tagtäglich, die anderen Asozialen, die aus der Oberschicht, sieht man eigentlich nur im Fernsehen. Sie haben viel Geld und Privilegien geerbt, sie sitzen in Aufsichtsräten und Vorständen, sie riechen gut und kümmern sich einen Scheißdreck um ihre Mitmenschen und diese Gesellschaft, obwohl sie über Macht und Mittel verfügen etwas für sie zu tun. Wie soll man ein Problem beseitigen, wenn man es nicht benennt.
Der Begriff Unterschicht ist ehrlich und schmucklos. Wer ohne ihn auszukommen versucht, erweckt den Verdacht, dass er überhaupt nicht mehr daran interessiert ist, Verantwortung für die Beseitigung gesellschaftlicher Missstände zu übernehmen. Und das ist ja wohl auch der Zweck der sprachkosmetischen Übung.