Archiv Ausgabe März 2006 Kunst, Ausstellungen Kunst

Kunstbuch des Monats

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Wolf Pehlke - Sweet Paris

Zivilisation, so hat neulich ein amerikanischer Psychologe definiert, ist die Kunst, in Städten zu leben, die so groß sind, dass niemand den anderen kennt. Das Mekka der westlichen Zivilisation, dem 3 Buchstaben (A,D,S) zum Paradies fehlen, heißt Paris. Wie Odysseus, der sich bei den Phäaken für die erwiesene Gastfreundschaft mit Geschichten aus einer fremden Welt revanchierte, stieg auch der Karlsruher Maler Wolf Pehlke in die Unterwelt dieser Metropole, um ihren verbrauchten Körper mit seiner Halluzinationsmaschine zu beleben. Für eine Weile verlässt er die Welt der Immer-Geschäftigen: "Eine Abwesenheit von Zeit, in die man sich hinein verkriecht. Ein Ort, an dem es kein oben gibt und kein unten. Wo es keine Rolle mehr spielt, wann du in dieser Stadt angekommen bist. Ob du hierher gekommen bist von Marseille oder Le Havre mit einem gefälschten Pass oder ob du, als ein gelangweilter Tourist am Gare du Nord ausgestiegen bist" (S. 37). 
Zustande gekommen sind knallharte Gesellschaftsanalysen jenseits von vorprogrammierten, zwanghaften Vorstellungsmustern: "Private Legenden", beeinflusst von W.S. Burroughs´ Schreibart des "cut up". Zufällige Begegnungen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch. Beobachtungen, wie mit dem Fotoapparat eines Cartier-Bresson geschrieben, die mit privaten Erinnerungen, Abschweifungen und Überlegungen verkettet werden. Blitzlichtartiges Schreiben, damit der Gärpunkt der Zivilisation mit dem Lebensrhythmus der Menschen in dieser Stadt in Übereinstimmung gebracht wird. Auf den verfemten Teil richtet Wolf Pehlke seine Aufmerksamkeit. Deshalb treibt er sich in den zwielichtigen Quartieren und Zonen des urbanen Nomadentums herum. Wie alle Menschen in der Fremde, hat er alle Zeit der Welt, um seinen Film mit Worten zu montieren. dieser läuft mal schneller, mal langsamer. Oder er spult ihn zurück. "Warum man es nie müde wird, ziellos durch die Straßenzüge dieser Metropole zu streifen" (S. 59)´ Die Antwort hat mit der Moral zu tun, die in diesem Buch entfaltet wird: Uneingeschränkte Sympathie mit dem "Amoralischen" oder jedenfalls jener Moral, die dem Leben Platz gibt. Der Barmherzigkeit mit den Lusthungrigen. 
Weil sich Wolf Pehlke nichts vornimmt (schon gar nicht das Selbstverwirklichungsprogramm des braven Bürgers, andere zu bekehren: Zum gesunden Leben, zum Nichtrauchen, zum politisch-korrekten Denken, zur Wohlanständigkeit, zum Sparen, zur Nüchternheit usw.) ist er immer verabredet: Im kleinen Café, in der Metro, auf dem Markt am Samstagvormittag, in der Kopfsteinpflasterstraße, in der die Nutten ihre Runden drehen, in der leeren Bar. Paris - eine Frau "die wir nie würden bezahlen können. Eitel und unerreichbar. Aber mit einer Möse, die unser Verrecken wert ist" (S. 70). 
Ein präzises Bilderfrikassee plus Beharren auf eigenen Einsichten, In die gesellschaftliche Kreisbewegung der Vernutzung um des Verbrauchs willen: "Hineinstopfen und Sein" (S. 50). Verbrauchen, Vermüllen Wegwerfen - das Leitbild der modernen Lebensführung . Wolf Pehlke stirbt lieber eines natürlichen Todes, bevor er sich mit Marx und Heidegger darauf vorbereitet. "Sweet Paris" sollt man lesen, aber erst, wenn man bereit ist, "Gras zu fressen und auf der Erde zu schlafen" (S. 102). 
(Wolf Pehlke, Sweet Paris; Verlag Peter Engstler, 2005, www.engstler-verlag.de) - Franz Littmann